Lebensversicherungen schulden Neuabrechnung und Nachzahlung*
*von Peter Schramm, Sachverständiger und Johannes Fiala, Rechtsanwalt
Zwei Entscheidungen aus 2005 werden die Verträge der Lebensversicherer und die
Abrechnungspraxis in der Zukunft massiv zu Gunsten der Verbraucher verändern:
Es sind die BGH-Urteile vom 12.10.2005 (Az. IV ZR 162/03, 177/03, 245/03) und das
Verfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 26.07.2005 (Az. 1 BvR 80/95).
Vorwurf der Verbraucherschützer:
Seit vielen Jahren steht die Abrechnungspraxis der Versicherer im Kreuzfeuer der Kritik, und dies
nicht nur deshalb, weil die Lobbyarbeit der Finanzkonzerne zu ihren Gunsten
zahlreiche gesetzliche Erleichterungen durchgesetzt hat.
Bereits vor Jahren erging ein Urteil (Az. 74 047/83, LG Hamburg), welches es gestattete
„Lebensversicherung zur Altersversorgung ist legaler Betrug.“ zu äußern. Wer
seine Lebensversicherung bereits nach etwa zwei Jahren kündigte, musste
feststellen, dass der Rückkaufswert „null“ beträgt. Die bezahlten Prämien
wurden insbesondere mit Abschlusskosten (Vertriebskosten incl.
Vermittlerprovision) und einem Stornoabzug verrechnet. Faktisch war das Geld
nicht weg – es hatte nur jemand anderes (behalten).
Die Gerichte wollen es jetzt nicht mehr dabei bewenden lassen.
Auch Vermittler haften:
Experten sprechen davon, dass mehr als die Hälfte aller Lebensversicherungen vor Erreichen der
ursprünglich vorgesehenen Laufzeit gekündigt werden. Zeitanteilig erhöhen sich
damit die Abschlusskosten, denn die Provision bleibt betragsmäßig gleich hoch –
auch wenn die Vertragslaufzeit und damit die Einzahlungen des Kunden am Ende
viel geringer sind. Eine Haftung des Finanzberaters für fehlerhafte Beratung
kann dabei in Frage kommen, aber auch eine sittenwidrig zu hohe Courtage bzw.
Provision.
Banken und Versicherungsvermittler kombinieren die Lebensversicherung gerne bei der
Finanzierung mit einem Festkredit – insbesondere bei der
Eigenheim-Baufinanzierung hat dies erhebliche wirtschaftliche Nachteile zur
Folge. Schließlich dauert dann das Abbezahlen der eigenen vier Wände
erfahrungsgemäß zehn Jahre länger und kostet zudem erheblich mehr als beim
Annuitätendarlehen: Mancher Bauherr verlor durch solche Mehrbelastungen sein
Eigenheim in einer Zwangsversteigerung.
Auch diese sogenannten „Zinsaufblähungs- bzw. Hebelgeschäfte“ sind seit Jahren ein Aufhänger, Vermittler zum Schadensersatz zu verurteilen.
Enteignung der Versicherten:
Aus dem Schutz des Eigentums durch die Verfassung, auch aus der Handlungsfreiheit mit dem Schutz
vor ungleicher Verhandlungsposition folgerte das Verfassungsgericht, dass der
Gesetzgeber bis Ende 2007 eine gesetzliche Regelung zur Beteiligung der
Versicherten an faktisch vorhandenen, mit Versicherungsprämien angeschafften
Vermögenswerten der Versicherer, zu gestalten habe. In der Praxis können
Versicherer ihre Wertpapiere und Immobilien handelsrechtlich abschreiben – der
Versicherungskunde wird daran dann unzureichend beteiligt. Auch die sogenannten
„Querverrechnungen“ der Versicherer seien intransparent. Die
Versicherungsaufsicht schützt den Versicherungskunden nicht ausreichend vor
einer Benachteiligung.
Rückzahlung des Stornoabzugs an Versicherungskunden:
Nach Meinung des Bundesgerichtshof waren Klauseln über den Stornoabzug, also Kündigungskosten
(„Strafgebühr“), nicht transparent genug und daher unwirksam. Verbraucher
könnten daher (auch bei längst gekündigten Verträgen) prüfen lassen, ob der
Versicherer noch etwas nachbezahlen muss.
Rückzahlung von Abschlusskosten an Versicherungskunden:
Abschlusskosten sind in der Regel Vertriebskosten – je nach Vertrag und Gesellschaft, auch
abhängig davon ob es eine aus- oder inländische Versicherung ist, können die
Abschlusskosten 7% oder deutlich mehr sein. Diese Kosten wurden in der Regel
mit den Prämien aus den ersten zwei Jahren der Beitragszahlung des Kunden verrechnet.
Der BGH hat dieser Praxis ein Ende gesetzt und durch richterliche Vertragauslegung
festgeschrieben, dass der Versicherungskunde in der Regel mindestens etwa knapp
die Hälfte seiner eingezahlten Beiträge bei Kündigung zurück zu bekommen habe
(Faustformel). Damit stehen dem Versicherten auch bei bereits gekündigten und
abgerechneten Versicherungsverträgen im Einzelfall oftmals zusätzliche kräftige Nachzahlungen zu.
15 Millionen Verträge betroffen:
Der BGH meint 10 – 15 Millionen Verträge könnten von seinen Urteilen betroffen sein. Wann der
Gesetzgeber (bis Ende 2007) eine Regelung trifft ist offen – die
Versicherungswirtschaft hat nun die Aufgabe für künftige Verträge „transparente“,
also für den Verbraucher von vorne herein verständliche Klauseln zu entwickeln.
Dabei werden auch die Vorgaben des Verfassungsgerichts zu berücksichtigen sein.
Betriebliche Altersvorsorge prüfen:
Das Arbeitsgericht Stuttgart (Az. 19 Ca 3152/04) ging in seinem Urteil vom 17.01.2005 noch einen
Schritt weiter: Danach haben Arbeitnehmer bei einer Gehaltsumwandlung überhaupt
keine Belastung mit Abschlusskosten hinzunehmen !
Hier wird der Arbeitnehmer noch mehr geschützt, als der „normale“ Versicherungskunde, denn
der Arbeitnehmer hat stets Anspruch auf einen Rückkaufswert berechnet aus der
Summe bezahlter Prämien – ohne Abzug von Abschlusskosten, Vermittlungsprovision etc.
Betroffen sind davon Arbeitgeber mit Entgeltumwandlungsmodellen für die Mitarbeiter.
Neue Klagen – ungelöste Probleme:
Auch durch die Rechtsprechung der Obergerichte bleibt es dem Verbraucher in der Regel nicht
erspart, die Nachberechnungen der Versicherer fachkundig durch einen
Sachverständigen prüfen zu lassen. Zumal für den Verbraucher „noch mehr drin“
ist, als bisher ausgeurteilt, denn auf den Zeitwert kommt es gesetzlich an.
Sind die Klauseln unwirksam, so greift das Gesetz - hier § 176 VVG bei Kündigung (und § 174 VVG
bei Beitragsfreistellung). Dieses besagt, das der Rückkaufswert der Zeitwert
des Vertrages ist. Von diesem Zeitwert dürfen dann noch Abzüge (Stornoabzüge)
vorgenommen werden, soweit diese vereinbart und angemessen sind. Der BGH stellt
nun fest, dass diese Abzüge nicht wirksam vereinbart sind.
Ob dies der Fall ist, sei zunächst dahingestellt. Falls der BGH dies nur auf die mangelnde
Transparenz der Klausel zu Verrechnung der Abschlusskosten durch Zillmerung
zurückführt, wäre dies für die Vereinbarung der Stornoabzüge eigentlich ohne
Bedeutung, denn die Stornoabzüge haben mit der Zillmerung der Abschlusskosten
rein gar nichts zu tun. Vielmehr ist die Zillmerung bereits vor dem Abzug der
Stornoabzüge vom Rückkaufswert in der Berechnung des Zeitwertes enthalten.
Trugschluss des BGH:
Der BGH geht offenbar - wie übrigens die meisten Kunden - davon aus, dass der Zeitwert sich
aus den gezahlten Prämien unter Abzug von Kosten einschliesslich
Abschlusskosten sowie Berücksichtigung von Zinsen und Risikobeiträgen
berechnet. Also etwa wie die Entwicklung eines Sparkontos - man nennt dies eine
sogenannte retrospektive Berechnung.
Das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) sieht aber eine Zeitwertberechnung vor, und
die erfolgt prospektiv, also ausgehend von der zugesagten Versicherungsleistung
und den noch zu zahlenden Beiträgen. Als einfaches Beispiel sei dies - ohne
weitere Kosten außer Abschlusskosten und ohne Zins - erläutert. Wenn der
Vertrag vorsieht, dass 20 Jahre lang jährlich 1000 EUR an Beiträgen gezahlt und
am Ende 18.000 EUR ausgezahlt werden, weil - egal wie intransparent und ob
überhaupt vereinbart - die ersten zwei Jahresbeiträge mit den Abschlusskosten
verrechnet wurden - dann erhält der Kunde nach 2 Jahren einen Rückkaufswert -
Zeitwert - von 0 EUR, obwohl er ja 2000 EUR gezahlt hat. Der BGH glaubt nun,
dieser Abzug von den gezahlten 2000 EUR sei unzulässig, weil der Abzug der
Abschlusskosten nicht transparent vereinbart ist.
Darauf kommt es aber gar nicht an: nach dem Gesetz berechnet sich der Rückkaufswert nämlich als
Zeitwert. Und das bedeutet: von der vereinbarten Leistung in Höhe von 18.000
EUR werden die noch zu zahlenden Beiträge für 18 Jahre - ebenfalls 18.000 EUR -
abgezogen, so dass als Zeitwert 0 EUR verbleiben. Diese 0 EUR sind gleichzeitig
auch das sogenannte gezillmerte Deckungskapital - 2000 EUR betragen die
gezillmerten Abschlusskosten. Dass dieses Resultat letztlich durch die
Verrechnung der Abschlusskosten verursacht ist, muss nach dieser
gesetzeskonformen Methode der Bestimmung des Rückkaufswertes/Zeitwertes aber
gar nicht erläutert werden oder sonst irgendwie vereinbart sein. Jedwede
Erklärung dazu, dass Abschlusskosten verrechnet werden, hätte nur rein
beschreibenden Charakter ohne unmittelbare Wirkung - sie wird für das Ergebnis
nicht benötigt. Die Unwirksamkeit einer Klausel, die diesen Umstand beschreibt,
ist daher völlig irrelevant; es genügt die gesetzliche Bestimmung alleine.
Klagerisiko der Versicherer:
Doch was ist nun der Zeitwert eines Vertrages? Dazu ist jedenfalls auch ein Diskontierungszins
zu berücksichtigen. Der Zeitwert beispielsweise eines beitragsfreien Vertrages,
der in 20 Jahren eine Leistung von 100.000 EUR vorsieht, ist ja keinesfalls zum
heutigen Zeitpunkt schon 100.000 EUR. Die Versicherer diskontieren hier mit dem
Rechnungszins des Vertrages, also je nach Vertragsbeginn mit 4%, 3,5% , 3,25 %,
3 % oder 2,75 %. Damit hat ein beitragsfreier Vertrag, der in 20 Jahren 100.000
EUR Leistung vorsieht, einen Zeitwert von z. B. 45.639 EUR (bei 4 %
Rechnungszins) oder 58.125 EUR (bei 2,75 % Rechnungszins). Ob diese starken
Unterschiede gerechtfertigt sind, hängt davon ab, ob vielleicht aus anderen
Quellen - z. B. durch Überschusszins - noch ein Ausgleich erfolgt. Denn ohne
jeden weiteren Überschuss sind 100.000 EUR, die in 20 Jahren gezahlt werden,
heute gleich viel wert und hängen nicht etwa davon ab, mit welchem Zins der
Versicherer gerechnet hat. Auch bei einem Zerobond, der 100.000 EUR bei
Fälligkeit in 20 Jahren vorsieht, hängt der heutige Zeitwert ja nicht davon ab,
wann der Bond (Rentenpapier) zu welchem Zins ursprünglich einmal ausgegeben
wurde, diskontiert wird er vielmehr mit einem einheitlich bestimmbaren
Kapitalmarktzins heute.
Finanzmathematik und Gerichtslogik:
Eklatante Verstöße gegen die Denkgesetze in Urteilen können Entscheidungen vor dem
Verfassungsgericht angreifbar machen, denn die Logik ist Bestandteil der
verfassungsgemäßen Rechtsordnung. Insbesondere könnten Verbraucher mit
sachverständiger Hilfe auch finanzmathematisch den Zeitwert nach dem
Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ins Feld führen und vorrechnen, um
gegebenenfalls zusätzliche Auszahlungen bei vorzeitiger Vertragskündigung zu
erreichen.
Doch wenn die Versicherer gegenüber dem BGH diese gesetzlich vorgegebene Berechnungsmethode
zu sehr ins Feld geführt hätten, so wäre genau die Frage der adäquaten Berechnung
eines Zeitwertes aufgetaucht. Und damit wäre die eindeutig bestimmbare und in
der Regel verwendete - aber im Prinzip sich gar nicht immer zweifelsfrei aus
dem Gesetz ergebende - Ausgangsbasis "gezillmertes Deckungskapital"
zu hinterfragen gewesen. Dies aber könnte angesichts der derzeitigen
Kapitalmarktsituation noch nachteiliger sein, wenn nämlich Versicherer bei
Verträgen mit z. B. 4 % Rechnungszins den Rückkaufswert/Zeitwert nicht mehr mit
4 %, sondern mit einem Kapitalmarktzins von vielleicht demnächst nur noch 3 %
oder weniger berechnen müßten.
Kontrolle ist wichtig:
Soweit man dem Versicherer nicht zutraut, den
Rückkaufswert richtig und transparent berechnet zu haben, kann man dessen
Berechnungen durch einen unabhängigen mathematischen Sachverständigen
überprüfen lassen. Dazu bedarf es zunächst keiner Klage. Aber der
Versicherungskunde muss, auch bei längst abgerechneten bzw. gekündigten
Verträgen, beim Versicherer eine Neuabrechnung zunächst einmal verlangen, wenn
er auf sein gutes Geld nicht verzichten möchte.
24. Oktober 2005
Peter Schramm, Aktuar DAV
Sachverständiger für Versicherungsmathematik in der privaten Krankenversicherung
öffentlich bestellt und vereidigt von der IHK Frankfurt am Main
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Johannes Fiala, Rechtsanwalt, MBA (Univ.Wales), MM (Univ.)
Bankkaufmann (IHK), Geprüfer Finanz- und Anlageberater (A.F.A.)
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